17. September 2011: Parkfest am Yppenplatz – 100 Jahre Wiener Teuerungsrevolte

Am Samstag den 17. September soll am Yppenplatz ein friedliches Parkfest gefeiert werden.

Ein guter Anlass, um ein paar historische und aktuelle gesellschaftliche Zusammenhänge zu beleuchten. Dies ist ein erster Versuch. Andere sind aufgerufen, zu recherchieren, sich selbst Gedanken zu machen, diese zu Verbreiten, auf ihre Art für diesen Tag aufzurufen.

Warum am 17. September?

Vor hundert Jahren, am 17. September 1911, trieben Truppen von Polizei und Militär eine Menschenmenge vom Ring Richtung Ottakring. Dort, und an ein paar anderen Orten der Stadt, begann eine Revolte, wie sie Wien vorher wie nachher kaum gesehen hat. Zuvor hatte sich eine Menschenmenge von rund 100.000 vor dem Rathaus und am angrenzenden Ring versammelt, um gegen die zuvor seit Monaten anhaltende enorme Teuerung von Nahrungsmitteln und Wohnraum zu protestieren. Irgendwann, nachdem von sozialdemokratischer Seite Reden gehalten wurden, verbreitete sich ein Gerücht, dass vom Palais Epstein her ein Schuss gefallen sei. Es flogen Steine gegen Rathaus und Palais, die Menschen wurden Richtung Neubau und Mariahilf abgedrängt.

Ein Teil sammelte sich in Ottakring, errichtete dort Straßenbarrikaden gegen die bewaffneten Kräfte des Staates. Amtsgebäude wurden verwüstet, in großer Zahl Akten vernichtet, die Leute holten sich in Plünderungen, was sie sich sonst nicht leisten konnten, Schüler_innen zerissen ihre Schulbücher und warfen sie auf die Straße. Teile Ottakrings wurden über viele Stunden gegen die Angriffe von Polizei und Militär verteidigt. Es soll Tage gedauert haben, bis wieder vollständig “Ordnung hergestellt” war. Die blutige Bilanz: Mindestens 149 Verletzte, vier Tote durch Schüsse bzw. Bojonettstich auf der Straße, ein weiterer in Untersuchungshaft, und nach einem mutmaßlichen Attentatsversuch im Reichsrat während dem Tagesordnungspunkt “Teuerungsrevolte” ein weiterer Toter in einem Knast ein paar Jahre danach.

Dass wir jetzt, hundert Jahre später diesen Tag in Erinnerung rufen wollen, hat nichts mit Revolutionsromantik zu tun. Es geht auch nicht um eine Verherrlichung der damals entstandenen “Schäden” oder der ausgeübten Gewalt, oder darum, die Toten von damals als Held_innen zu feiern. Das Ziel ist eher, dieses Stückchen Geschichte aus der Versenkung zu holen, im Kontext seiner Zeit zu diskutieren, aber auch einen Bezug zu heute herzustellen.

Wenn wir im Sommer 2011 über den 17.9.1911 in Wien nachdenken, dauert es nicht lange, bis die “Krawalle” in London und anderen britischen Städten in den Sinn kommen. Damals in Wien wie heute in London war das Handeln der Menschen nicht unpolitisch, sondern der unter den jeweiligen Umständen vielleicht naheliegendste Weg, sich direkt zur Wehr zu setzen gegen ein System, dass für viele einfach nur Ausbeutung und Ausgrenzung bedeutet. Wer innerhalb eines Ausnahmezustands unbezahlt einen Flachbildfernseher aus einem Elektromarkt trägt, setzt sich damit sehr direkt über die Diktate der Waren- und Eigentumswelt hinweg, und handelt damit durchaus aus einer Art “Klassenstandpunkt”. Genauso sind die Verwüstungen von Wien 1911 ein teilweise relativ klar gegen die Verwaltung gerichteter Akt gewesen, weil die Mitschuld an der Misere richtigerweise nicht nur irgendwelchen Chefs oder Banken gegeben wurde, sondern auch den vor allem in deren Sinne agierenden staatlichen Einrichtungen.

Ein kleiner Vorstadt-Aufstand macht noch keine Revolution, und wenn am Ende nicht der Sozialismus, oder heute vielleicht “echte Demokratie” in Aussicht steht, dann versuchen fortschrittlich-liberale und linke damals wie heute, sich von allem zu distanzieren, dass auch sie niemals kontrollieren könnten. “Konsumorientiert” seien die Unruhen in London gewesen, weil sie sich Waren unrechtmäßig angeeignet haben. “Lumpenproletariat” nannte der Sozialdemokrat Otto Bauer damals in Wien die Menschen, die eine Gelegenheit beim Schopfe packten und plünderten, was sie brauchen oder verkaufen konnten.

Am nächsten Tag rief die Sozialdemokratie die Menschen wieder an die Arbeit, um nicht in einem möglicherweise ausbrechenden Streik die Kontrolle über die Geschehnisse komplett zu verlieren, und lieber wieder im Parlament weiter zu reden, aus gemütlicher Entfernung zum Pöbel. Einerseits wurde die Revolte später als politisches Pfand eingesetzt, um die eigene politische Linie zu bestärken, andererseits wurde verächtlich herabgeschaut.

Statt dieser bürgerlich geprägten Distanz sollte eher hervorgehoben werden, unter welchen Verhältnissen solche Zustände entstehen. Die Gewalt geht nämlich immer schon vorher von der anderen Seite aus. Die ganze Gesellschaft, wenn auch damals offensichtlicher als heute, beruht auf Gewaltausübung durch den Staat im Interesse der Eigentumssicherung, die letzten Endes vor allem im Interesse derer ist, die unendlich viel haben im Vergleich zur breiten Masse der Menschen. Zu Tage bricht die Gewalt spätestens dann, wenn sich Menschen über diese Ordnung hinwegsetzen, und der Staat zurückschlägt.

Auch heute ist die soziale Lage prekär, auch heute gibt es viele, die nicht einmal an der faden Warenwelt wirklich teilhaben können, auch wenn sie bezahlte Arbeit haben. Auch heute steigen die Preise von Lebensmitteln und Mieten beträchtlich, wenn auch etwas weniger schlagartig als damals.

Hoffentlich finden wir auch andere Wege, dem zu begegnen, unserer Wut und unserem Änderungswillen Ausdruck zu verleihen, als spontane Revolten, die meist schnell niedergeschlagen werden und große Repression zur Folge haben. Aber sie zu verteufeln, wäre eine Verweigerung der Realität, die eben im jeweiligen historischen Moment diese spezifische Ausdrucksform der gesellschaftlichen Widersprüche gefunden hat.

Vielmehr müssen wir uns fragen, was die Gründe sind, wenn der Gedanke des Aufstands nicht über die paar Tage und Nächte hinaus wirken kann. Welche andere Formen gibt es, aufständisch zu sein, sich in Bewegung zu setzen und die bestehende ungerechte und brutale Ordnung zu unterwandern und zu zersetzen? Was müssen wir aufbauen, um nicht wenn die Supermarktregale leer geplündert sind wieder den alten “Normalzustand” herstellen zu müssen, damit wir etwas zum Essen haben? Was können wir gegen die Vereinzelung tun, die der Grund dafür ist, dass wir im täglichen Leben in diesem System nie den selben Grad an spontaner Solidarität unter “Fremden” aufbauen können, wie es ihn während einer aufständischen Situation zwischen den Menschen auf der selben Seite der Barrikaden gibt? Wie kommen wir an den Punkt, an dem ein Teil der Soldat_innen und Polizist_innen ihre Uniform ablegen, und auf diese Seite der Barrikaden gehen, weil ein großer Teil ihrer Familie und Freund_innen eh schon da sind?

Der technische Fortschritt der Aufstandsbekämpfung ist hinter den Kulissen schon längst noch weiter, als das was wir täglich von Straßen irgendwo auf der Welt sehen können. Gegen Polizei und Militär auf deren Ebene, mit deren Mitteln einen “Sieg” zu erringen, ist heute noch unrealistischer als damals.

Die Gesellschaftsordnung, die staatliche Gewalt überhaupt erst notwendig macht, können wir aber ändern. Das wird nur möglich sein, wenn ihr von vielen Menschen die Legitimation abgesprochen wird. Wenn wir gemeinsam diskutieren, was wir nicht wollen, und was wir statt dessen wollen. Und dann damit anfangen. Wir werden sicher nicht den Weg gehen, den die Sozialdemokratie 1911 gegangen ist, nämlich die Legitimation der Herrschaft nicht in Zweifel zu ziehen, die angebliche Kriminalität des Aufstands zu verurteilen, sie aber gleichzeitig als Grund zu nehmen, wieder einmal soziale Reformen zu fordern.

Es ist eben dieser linke Reformismus, der zusammen mit dem Unwillen, die hinter den angeprangerten Ungerechtigkeiten stehenden Strukturen zu benennen, der revolutionäre Bewegungen immer wieder in eine Sackgasse geführt hat.

Genau so wie es keinen “grünen” Kapitalismus geben kann wird es auch keinen “sozialen” geben. Die Frage die wir uns stellen müssen ist also, wie Revolution im 21. Jahrhundert gedacht werden kann. Ein militärischer Aufstand oder ein irgendwie gearteter Putsch, der dann eine “revolutionäre Regierung” zur Folge hätte, ist nicht nur angesichts der hochgerüsteten Waffensysteme heutiger Polizei und Armeen völlig illusorisch, auch hat uns die Geschichte gezeigt, dass so nur wieder neue Unterdrückungsmechanismen eingeführt werden.

Nur ein Entziehen der Zustimmung zu dieser Ordnung durch breite Teile der Bevölkerung und der gleichzeitige Aufbau von selbstorganisierten Strukturen und einem solidarischen Miteinander scheint ein Weg zu sein, wenn nicht nach einer Umwälzung wieder Macht und Herrschaft in neuem Gewand auftreten sollen.

Mit dem Fest am Yppenplatz soll ein Schritt gemacht werden, vielleicht um in Ottakring und anderswo ein paar Dinge aus der Geschichte zu lernen, vor allem aber von Mensch zu Mensch ein viel verzweigtes soziales Wurzelwerk zu errichten und zu verdichten, im Grätzel rund um den Platz, in Ottakring, in anderen Bezirken und in der ganzen Stadt, mit Verbindungen zu Kommunen am Land, das uns hilft, unser materielles, gesellschaftliches, kulturelles Leben nach und nach unabhängiger zu machen, damit wir nicht von Zugeständnissen der Herrschenden abhängig bleiben, sondern diese irgendwann einmal nachhaltig vom Sockel stoßen können.

Wie es der Zufall so will, ist am 17. September auch eine große Demo vom Europäischen Gewerkschaftsbund für “europäische Solidarität und Arbeitsplätze” in Wroclaw (Polen) geplant.

In New York wollen Tausende am selben Tag die Wall Street besetzen, und dort Zelte aufstellen, wie am Tahrir Platz oder diversen Städten in Israel oder Spanien.

Und seit Wochen sind Menschen aus Spanien unterwegs, und gehen zu Fuß über Paris, wo sie am 17. September eintreffen wollen, nach Brüssel, um sich dort im Oktober mit angereisten Gruppen verschiedener Länder zu einer Art europäischer Vollversammlung der Bewegungen der Platzbesetzer_innen bzw. “Empörten” zu treffen.

Schon eine Weile kursiert der Tag auch als internationaler Aktionstag gegen die Macht der Banken, was daraus wird ist aber scheinbar noch nicht sehr konkret.

Jedenfalls werden an vielen Orten der Welt an diesem Tag die Stimmen sozialer Bewegungen zu hören sein. In Wien wird es wohl vermutlich kein Massenspektakel geben, aber gerade deshalb wollen wir sozusagen bei den “basics” anfangen, also bei dem unweigerlich notwendigen ersten Schritt, dass die Menschen zusammen kommen, und über ihre Lage und mögliche gemeinsame Auswege miteinander ins Gespräch kommen. Zum Beispiel auf dem Parkfest am Yppenplatz.

Alle sind aufgerufen, sich selbst einzubringen, Ideen beizusteuern, “Programm” von Workshops über Theater und Musik bis zu bildender Kunst zu organisieren, Infostände mit emanzipatorischen Inhalten aufzubauen, das Datum bekannt zu machen, eigene Aufrufe zu veröffentlichen, andere Veranstaltungen am selben Tag zu planen, Nahrung, Getränke, Spiele, Sitzmöglichkeiten mitzubringen, bei der Vokü mitzuhelfen, in der Geschichte des Widerstands zu wühlen und neue Erkenntnisse zu Tage zu fördern, und überhaupt: die ganze Welt Stück für Stück umzukrempeln.

Folgende Infos u.a. auf 17september.noblogs.org
Eine Kontaktmöglichkeit: 17september@riseup.net

Es wird, ziemlich sicher am Wochenende davor, noch ein Vorbereitungstreffen geben, bei dem sich verschiedene Personen und Gruppen, die an dem Fest mitwirken wollen, noch einmal koordienieren können. Der Termin dafür wird noch angekündigt, ein Raum wird gerade angefragt. Es ist aber sicher kein Fehler, wenn andere Leute bereits vorher selbst Treffen organisieren und diese vielleicht auch öffentlich ankündigen.

Das Fest wird am frühen Nachmittag beginnen, die genau Uhrzeit ist noch nicht festgelegt.
Andere Aktionen am 17. September:

“Arbeitsleben Ottakring”
ein austellungs.projekt zum 17. september 1911 – anarchie der vorstadt
http://www.galeriestudio38.at/ARBEITSLEBEN

Marsch nach Brüssel
http://www.marchtobrussels.eu/

EGB-Demo
http://www.etuc.org/a/8894
https://at.indymedia.org/node/21118

Occupy Wallstreet
http://www.adbusters.org/campaigns/occupywallstreet
https://occupywallst.org/

Zur Teuerungsrevolte in Wien 1911

Teuerungsrevolte – Wikipedia
https://secure.wikimedia.org/wikipedia/de/wiki/Teuerungsrevolte

TATblatt +135 – rezension: anarchie und vorstadt
http://www.nadir.org/nadir/periodika/tatblatt/135vorstadt.htm

Werner Bundschuh: Die Wiener Septemberunruhen – der „blutige Sonntag“ von 1911 im
Spiegel der Vorarlberger Presse (auch als PDF)
http://www.malingesellschaft.at/texte/geschichte-19.-20.-jh/werner-bundschuh-3

Teuerungsunruhen – WEB – Lexikon der Wiener Sozialdemokratie
http://www.dasrotewien.at/teuerungsunruhen-von-1911.html

Teuerungsrevolte in Wien vom 17. September 1911 (wien.gv.at)
http://www.wien.gv.at/kultur/archiv/geschichte/ueberblick/teuerungsrevolte.html

Die Toten der Teuerungsrevolte in Wien vom 17. September 1911 (wien.g.v.at)
http://www.wien.gv.at/kultur/archiv/geschichte/zeugnisse/teuerungstote.html

Das Jahr 1911 – Kanonenbootdiplomatie und Kriegstreiberei (chroniknet.de)
http://www.chroniknet.de/indx_de.0.html?article=70&year=1911

Leider nur offline als Buch:
Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/Main 2000


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